Es gibt zwei Dinge, die man vermeiden sollte, wenn man auf ein Gazpacho-Konzert geht: Das Intro verpassen und vor der Zugabe gehen müssen. Leider lässt sich beides nicht immer vermeiden – die Fahrpläne der Deutschen Bahn sind halt nicht unbedingt auf Konzertzeiten abgestimmt. Die „Röhre“ in Stuttgart liegt nur ein paar hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Melancholie liegt in der klirrend kalten Januarluft. Auf dem Weg durch die Dunkelheit begegnen uns die rot mahnenden Lichter der Stuttgart-21-Gegner im Schlosspark. Diese weisen uns freundlich den Weg zur Location. Glück gehabt: Das Intro – der Opener des neuen Albums „Missa Atropos“ – läuft gerade erst richtig an.
Gazpacho kommen aus Norwegens Hauptstadt Oslo, doch wer nun denkt, dass nordische Kühle ihre Musik bestimmt, täuscht sich. Gazpachos Hymnen treffen direkt ins Herz, oder besser noch: In die Seele. Wummernde Bässe, treibendes Schlagzeug, sechs Mann auf der Bühne, die alles geben – so sollte Musik immer sein. Mit der Musik ist es wie mit dem Essen: Es gibt Fastfood, das mit allerlei Standard-Gewürzen und Geschmacksverstärkern versetzt wird und massenweise erhältlich ist. Und es gibt das liebevoll zubereitete, aus besten, frischen Zutaten bestehende Fünf-Gänge-Menü, dem man schon beim ersten Bissen anmerkt, dass es etwas Besonderes ist. Gazpacho sind definitiv das Fünf-Gänge-Menü.
Frontmann Jan-Henrik Ohme hat das Publikum sofort in seinen Bann geschlagen, zelebriert die Stücke förmlich, die live wesentlich rockiger klingen als auf CD. „Desert Flight“ vom Vorjahres-Album „Tick Tock“ gehört zu den Stücken, bei denen die Instrumentalisten kräftig Gas geben können, während auf der Leinwand im Background Bilder eines Wüstenflugs zu sehen sind. Ohme ahmt das Flugzeug nach, welches ins Trudeln kommt und schließlich in einem furiosen Instrumental-Finale abstürzt – das Konzeptalbum zeichnet die Geschichte des Fliegers und Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry nach, der nach einem Flugzeug-Crash durch die libysche Wüste irrte. „The Walk“ erschafft die Illusion von Saharasand und Gluthitze, von den Gassen eines orientalischen Bazars und dem Duft nach fremdländischen Gewürzen, versetzt die Konzertbesucher in eine Welt weit weg vom winterlichen Stuttgart und der Dunkelheit der „Röhre“. Bunte Bilder formieren sich in den Köpfen, ganz wie Ohme singt: „Close your eyes, it’s all around you…“
Doch natürlich stehen auch zahlreiche Songs vom neuen Album auf der Setlist. Erklärter Lieblingstrack des Sängers selbst ist „Splendid Isolation“, das mit hypnotischem Intro fasziniert. Die meisten Stücke Gazpachos halten sich an kein Zeitlimit; lange Instrumental-Soli statt Norm-Länge sind Programm, so dass man in den Klangwelten aus den Lautsprecher-Boxen versinken und mitträumen kann. Wobei diese Träume nicht immer rosarot sein müssen: Teils beängstigende Bilder, Filmmaterial aus früheren Zeiten, schwarz-weiße Zeichentrick-Segmente und alptraumhafte Skizzen, die im Hintergrund ablaufen, inspirieren zu mehr als federleichten Zuckerwelten. Auch die Substanz von „Missa Atropos“ erzählt von Isolation, Selbstzweifeln und der ewigen Suche des Menschen nach dem eigenen Ich – und transportiert diese Botschaft in wunderbaren Tönen von der Bühne in die Konzerthallen hinein. Auch, wenn Jan-Henrik Ohme als Sänger im Mittelpunkt zu stehen scheint – die Szenen, in denen er für mehrere Minuten aus dem Rampenlicht verschwindet und der Band den nötigen Raum gewährt, zeigen, dass Gazpacho nur als Ganzes funktionieren. Schlagzeug, Gitarren, Keyboard, Bass und auch die Violine – alles zusammen ergibt das Gesamtkunstwerk Gazpacho, dessen Musikrichtung die Bezeichnung „Artrock“ mit voller Berechtigung trägt.
Nach gut zwei Stunden Spielzeit heißt es Abschied nehmen von der Röhre. Verflixt – der Zug fährt in einer guten Viertelstunde. Die Band auf der Bühne zeigt noch keinerlei Ermüdungserscheinungen. Material wäre genug da, um die ganze Nacht durchzuspielen; noch sind wir nicht einmal bei der Zugabe angekommen. Wobei wir wieder bei dem größten Fehler wären, den man begehen kann, wenn man ein Gazpacho-Konzert besucht: Vor der Zugabe den Saal zu verlassen. Es bleibt zumindest ein Trost: Jeder Kilometer nach Stuttgart hat sich gelohnt. Ich habe in meinem nicht mehr allzu jungen Leben schon einiges an Musik erlebt. Und Gazpacho gehört definitiv zum besten, was man in diesen Tagen auf der Konzertbühne hören kann.
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